Eingang des Bundesverfassungsgerichts

Wiederaufnahme verstößt gegen das Grundgesetz – BVerfG kippt § 362 Nr. 5 StPO

Auch gegen rechtskräftig freigesprochene Mordverdächtige darf kein neuer Prozess geführt werden, wenn aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel dringende Gründe für eine Verurteilung vorliegen.

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat der Verfassungsbeschwerde des im Jahre 1981 unter Mordverdacht stehenden Ismet H., welcher im Jahre 1983 rechtkräftig freigesprochen wurde, stattgegeben (BVerfG, Urt. v. 31.10.2023, Az. 2 BvR 900/22).

Gestützt wird die Entscheidung in weiten Teilen auf die verfassungsrechtlich verankerten Verbote der Mehrfachverurteilung und Rückwirkung.

Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden“ – so legt es das Mehrverfolgungsverbot (auch „ne bis in idem“ genannt) in Art. 103 Abs. 3 des Grundgesetzes fest.

Ein lapidar wirkender Satz, der in der strafrechtlichen Praxis – ebenso wie das in Art. 103 Abs. 3 GG i. V. m. Art 20 Abs. 3 GG verankerte Rückwirkungsverbot – jedoch überragende Auswirkungen hat:

Vor dem Hintergrund dieser Grundsätze erklärte das Bundesverfassungsgericht die Regelung des § 362 Nr. 5 StPO mit Urteil vom 31.10.2023 für verfassungswidrig.

§ 362 Nr. 5 StPO, welcher im Dezember 2021 in Kraft getreten war, bestimmt, dass eine Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Strafverfahrens zulässig ist, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die dringende Gründe dafür bilden, dass der freigesprochene Angeklagte wegen Mordes oder bestimmten Straftaten des Völkerstrafgesetzbuchs verurteilt wird.

Ziel der Einführung eines solchen Wiederaufnahmegrundes war die „Herstellung materieller Gerechtigkeit“. Aus Sicht des Gesetzgebers stellte es einen „unerträglichen Gerechtigkeitsverstoß“ dar, dass beendete Strafverfahren selbst im Falle schwerster Straftaten nicht wiederaufgenommen werden können, wenn im Nachhinein neue belastende Beweise auftauchen.

Der Fall von Ismet H., welcher im Jahre 1981 unter dem Verdacht stand, die damals 17-jährige Frederike Möhlmann vergewaltigt und ermordet zu haben, dürfte in hohem Maße zur Einführung des § 362 Nr. 5 StPO beigetragen haben.

Der damals Angeklagte wurde vom Landgericht Stade im Jahr 1983 rechtskräftig freigesprochen. Im Laufe der Zeit lieferte die Auswertung einer damals gesicherten DNA-Spur von Ismet H. neue Hinweise, die auf dessen Beteiligung an der Tat hindeuteten.

Der Vater des Mordopfers bemühte sich in der Folge unter anderem durch eine von 180.000 Personen unterzeichnete Petition um eine Änderung des Wiederaufnahmerechts.

Nachdem § 362 Nr. 5 StPO Eingang in die Strafprozessordnung fand, wurde Ismet H. im Jahr 2022 inhaftiert und das Verfahren wurde wiederaufgenommen.

Nachdem er erfolglos Beschwerde gegen den Wiederaufnahmeantrag erhoben hatte, zog Ismet H. vor das Bundesverfassungsgericht, wo die Karlsruher Richter ihm nunmehr Recht gaben:

§ 362 Nr. 5 StPO verstößt nach Auffassung des BVerfG sowohl Verbot der Mehrfachverfolgung auch gegen das Rückwirkungsverbot.

Art. 103 Abs. 3 GG gewähre dem Prinzip der Rechtssicherheit in absoluter Weise Vorrang – dies auch vor dem Prinzip der materialen Gerechtigkeit. Dieser Vorrang könne durch die Abwägung mit anderen Rechtsgütern von Verfassungsrang nicht relativiert werden.

Diesen Schluss ziehen die Richter aus dem systematischen Zusammenhang des Art. 103 Abs. 3 GG mit Art. 103 Abs. 2 GG, welcher ebenfalls abwägungsfest ist und keiner weiteren verfahrensrechtlichen Ausgestaltung im einfachen Recht bedarf.

Der Sinn und Zweck des Art. 103 Abs. 3 GG, welcher darin liegt, den Vertrauensschutz des Einzelnen zu gewährleisten und Rechtsfrieden zu schaffen, würde durch abweichende Regelungen zudem ausgehöhlt werden.

Darüber bedeute die Anwendung des § 362 Nr. 5 StPO aus Sicht des BVerfG im Fall des Ismet H. eine sog. „echte Rückwirkung“ dar, welche verfassungsrechtlich unzulässig ist. Eine echte Rückwirkung liegt immer dann vor, wenn der Gesetzgeber durch eine neue Norm nachträglich zu Lasten des Normadressaten in einen Lebenssachverhalt eingreift, der vor Einführung des Gesetzes schon abgeschlossen war.

§ 362 Nr. 5 StPO ermöglicht unter anderem die Wiederaufnahme von Strafverfahren, also Lebenssachverhalten, die schon vor dem Jahr 2021 rechtskräftig durch einen Freispruch beendet wurden, wodurch der jeweils Freigesprochene belastet wird.

Welche Schlüsse lassen sich aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ziehen?

Erstens zeigt es wieder einmal eindrucksvoll, wie das Rechtsempfinden großer Teile der Bevölkerung – immerhin erhielt die Petition für die Änderung des Wiederaufnahmerechts 180.000 Unterschriften – mit der tatsächlichen Rechtslage kollidieren kann.

Zweitens demonstriert die Entscheidung, dass auch legitime und gewichtige Belange, wie etwa das Ziel der Erreichung eines inhaltlich „richtigen“ und „gerechten“ Urteils, durchaus nicht in der Lage dazu sein können, an fundamentalen verfassungsrechtlichen Grundsätzen zu rütteln.

Ein Freispruch unter Vorbehalt ist verfassungsrechtlich – auch wenn dies im Einzelfall für Geschädigte und deren Angehörige sehr bitter sein kann.

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